Freitag, 21. Juni 2002

the locals know her, Wuppertal aktuell

Verwechselung - ein Portrait in Rot

Die Frau ist geisteskrank. Physisch scheint sie aber gesund zu sein, sonst würde sie die Tage und Nächte, den Regen, die Kälte nicht durchstehen. Sie ist drahtig, vielleicht sechzig Jahre alt. Obdach ist die prächtige Eingangspforte des Rathauses gegenüber dem Brunnen am Markt. Pünktlich, fünf vor acht, bündelt sie ihre Decke, nimmt die Habe in ihren Plastiktüten. Sie weiß, wann sie über die Straße gehen kann. Sie schaut sich um, setzt den Fuß auf das Pflaster, zieht ihn zurück, wartet und überquert die Fahrbahn, wenn das Auto vorbei ist. Das Haar unter der grauen Mützenhaube, so zieht die Alte durch die Stadt. Ein kleines, festes Gesicht mit Mauseaugen, die äugen. Menschen schaut sie nicht an; belästigt keine Passanten, spricht mit niemandem. Doch ihre Tiraden rollender polnischer Rs, Worte mit fester Betonung auf der vorletzten Silbe, die Proklamationen, Aus - und Anrufe sind laut und deutlich: »Märrder, Märrder, Judenfängerr, Herr Gerichtspräsident des polnischen Volkes, der Verrat wird bestraft und hinausgetrieben alle Deutschen aus der Heimat. Das Leid der Menschen im Osten ist die Verordnung. Auch die Russen, hier wie da. In Schlesien gibt es keine Huren, Herr Präsident. Auf den Panzern sind die Märrder, Genossen, die rotem Fahnen hoch. Die wissen, was sie tun, die Justiz der Märrder.« Dann spricht sie stumm weiter, bis auch ihr Mund nicht mehr zuckt; schweigt und äugt. Am Abend des Fußballspiels organisiert sie trockene Pappe und richtet ihr Nachtlager, als die Hupkonzerte beginnen. Die Türken werden Türken in Deutschland. Eine Parade, eine Kolonne des Siegs vorbei am Bahnhof, an Hertie, bei Mcdonalds steht alles. Die Neumarktstraße ist blockiert bis zum Finanzamt. Im 320 i Cabrio, fünf Kemal Paschas auf der hinteren Sitzbank demonstrieren osmanische Macht. Auf dem Suzuki Jeep, die linke Hand am Überrollbügel, die rechte schwenkt die rote Fahne für den Halbmond und den Stern. Drei Mädchen tanzen Befreiung. Er nimmt ihr das Kopftuch, sie lacht, er winkt. Die grölen nicht, doch Sprechchöre der grauen Wölfe treiben die Alte letztlich dazu, ihren Lagerplatz auf den Rathaustreppen zu verlassen und mit den anderen Menschen die Straße zu säumen. Sie sagt kein Wort, steht ganz still, und schaut die vorbeiziehenden Fahnen. Dann reckt sie sich, hebt die Arme, die Fäuste, beide Daumen fest außen, in den schwarzen Himmel, bewegt die Unterarme, Hoffnung und Siegesgewissheit den Truppen der roten Armee schenkend.

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Dr. Bernd U. Krippl
last update: 10.11.24, 16:18
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