Sonntag, 9. März 2008

Kurzprosa für Jean-Claude Izzo

nur traurige Geschichten aus Marseille? Manchmal sieht die Fiktion eines deutschen Schriftstellers eine andere Realität - und so wird mit Meer und Sonne aus dem Ende ein neuer Anfang.

Voilà

natürlich spielt das Geschehen in Marseille, aber nicht an einem deiner nasskalten Winterabende oder in modrigen Hausfluren und die Bullen und die Einwanderungsbehörden haben in dieser Affäre auch und Gott sei Dank nichts zu suchen. Das Pärchen, dass durch ein helles, sonnendurchflutetes Marseille lief, war auch für die Liebe fast noch zu jung. Weil es wahr ist, ist Mireille fünfzehn und aus Aubagne, und weil es wahr war, kam Jakub aus Algier vor etwa zehn Jahren mit dem Schiff und seiner Mutter, die ihn festhielt auf der Überfahrt. Sie zählte schon zu den Frauen, die sich nicht alles erzählen lassen, weder von denen, noch von denen, die alles was aus Europa kam, gut fanden. Jakub hat einen sehr dunklen Teint. Unter der Sonne wird seine Haut fast schwarz, wie geschaffen für den Kontrast, für die angebotene Hand von Mireille. »Das sieht schön aus«, fand sie und schaute auf die Hände. Dann schaukelte sie sie. Das machten die beiden, und es war ein kleines Ritual. So schüttelten sie die Sorgen weg. Sie hatten immer und überall großen Erfolg damit. An dem heißen Tag warteten sie am Boulevard Charles Livon auf den Bus. Als er kam, stieg Mireille natürlich zuerst ein, ließ aber sie seine Hand nicht los, entwertete die Fahrscheine und ließ seine Hand nicht los. Weil sie beide besonders gute Laune hatten, schaukelten sie wieder Arme und Hände, als der Bus in Richtung Lumigny losfuhr, und so wären sie beinah in die anderen Menschen gefallen. Die anderen Menschen waren eine Schulklasse auf dem Weg zum Strand. Du kannst dir ja so viel quicklebendiges Leben gut vorstellen. Übrigens, was ich dir auch noch sagen wollte, Mireille‘s Vater hatte nichts gegen Jakub. Ob sie zu ihrem ersten Platz oder zu ihrem zweiten Platz fahren würden, dass ging Jakub durch den Kopf. »Lass dich überraschen.« »Ich würde gerne zu den Geigen.« »Gut«, sagte sie, »dann steigen wir vor Borely aus.« Die Sonne schien beiden auf den Rücken, als sie die Avenue du Prado hoch gingen. Platanen gibt es da noch, mein Freund, rechts und links, aber der Verkehr ist noch schlimmer geworden. Nach vierhundert Metern bogen sie rechts ein. Jakub zog sie nun, obwohl er ja nicht sehen konnte. Vor dem Musikladen blieben sie stehen. Er drückte zweimal fest, und auf dieses Zeichen hin, begann Mireille, wie sie es so oft tat, genau zu beschreiben, was man sehen konnte, wenn man sehen konnte. Sie beschrieb die Instrumente, sagte die Preise dazu und malte mit ihren Worten die Rundungen der Gitarre - wie immer - doch heute, an diesem gleißend heißen Sommertag, log sie, denn die Vitrine war leer. Jakub ließ ihre Hand los. »Warum«, fragte er. »Warum Mireille?« Sie konnte nichts sagen, fand keine Antwort. Ihr wurde kalt trotz der sonnigen Hitze. Auf dem Rückweg, die Av du Prado hinunter, brach sie das Schweigen. »Wie hast du es bemerkt?« »Ich kann wieder ein bisschen sehen.« Jakub grinste mit den Ohren wie sein Onkel in Algier. Voilà.

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Dr. Bernd U. Krippl
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